Presse

Süddeutsche Zeitung

07 / 2004


 

Zeit zum Ausspannen

Von Claudia Nuber

Wann immer einer meiner Coachees das Wort "ausspannen" sagt, schwingt ein sehnsuchtsvoller Ton mit. So als wäre das etwas, was man sich immer wieder wünscht, aber selten bekommt. Geht es Ihnen genauso? Als Manager beziehungsweise Managerin arbeiten Sie nach dem Motto: Nichts ist unmöglich. Sie bekommen alles auf die Reihe, sogar den unwilligen Mitarbeiter motivieren Sie in Zeiten magerer Gehaltserhöhungen. Bravo! Doch wo in dieser leistungsorientierten Welt bleiben Sie und Ihre Bedürfnisse?

Früher, als die Menschen noch Tiere für sich arbeiten ließen, als es bei uns noch Ochsenkarren und Pferdekutschen gab, wurden diese Tiere "ausgespannt", damit sie sich von der Arbeit erholen konnten. Doch was aber ist mit uns, den Arbeitstieren von heute? Ist es nicht so, dass wir uns immer größere Leistungen abverlangen, immer höher, weiter, schneller springen sollen und wollen? Wenn wir nicht mehr funktionieren, was funktioniert in unserem Leben dann überhaupt noch? Also holen wir dann wenigstens im Urlaub das nach, wofür wir sonst nie Zeit haben: Yoga- und Tai-Chi-Kurse, Segeln, Golfen, Reiten. Aber wir verwechseln diese Entspannungsübungen nur mit Aktivitäten, die mit Entspannung wenig zu tun haben. Sie sind nur mehr vom Gleichen: Anstrengung, Anspannung.

Im Alltag bewegen wir uns im Spannungsfeld von Kontrollieren und kontrolliert werden. Man kann manchmal fast sagen, im Vergleich zu manchen Firmen ist ein Haifischbecken ein wahrer Streichelzoo. Wer kann sich in diesen Zeiten reinen Gewissens der - manchmal auch positiven - Spannung entziehen? Ist es doch fantastisch, sich der Herausforderung, dem Spaß an Neuem, hinzugeben. Mit Vergnügen bewegen wir uns auf der Überholspur, beruflich wie privat. Erfolg verleiht Flügel und spornt zu weiteren Höchstleistungen an. Erfolg motiviert und macht noch erfolgreicher, vorausgesetzt, man sorgt dafür, dass die eigenen Akkus kontinuierlich nachgeladen werden. Aber wie? Ganz klar so: Nur auf sich selbst können Sie sich wirklich verlassen, Sie bleiben bei sich von der Wiege bis zur Bahre. Sie sind der wichtigste Mensch in Ihrem Leben - auch wenn Sie Ihren Beruf mögen, Ihre Kinder, Ihren Partner über alles lieben und Ihre Freunde sehr gerne haben. Und dieses (Selbst-)Bewusstsein hat mit Egoismus wenig zu tun. Nur wenn Sie diese Haltung verinnerlicht haben, werden Sie auf sich achten und wieder anfangen zu spüren, wann es Zeit ist: zum Anspannen und zum Ausspannen. Wir achten auf so vieles - den Verkehr, das Verhalten der Mitarbeiter, die Wirtschaftslage und generell den Lauf der Welt.

Warum vernachlässigen wir uns selbst so sehr, wo es doch so einfach ist, auf uns zu achten? Wir sind von der Außenwelt so in Anspruch genommen, dass wir nicht mehr merken, wenn es genug ist? Brauchen wir Krankheiten, Burn-Outs oder Krisen, als Auslöser dafür, um innezuhalten und zu reflektieren, wer wir sind und was uns wichtig ist? Um auszuloten, wo unsere Möglichkeiten und Chancen wirklich liegen? Zugegeben, es gehört viel Mut dazu, sich etwas zu erlauben, was in unserer Leistungsgesellschaft relativ verpönt ist: Das Leistungs-Joch immer wieder einmal abzulegen. Spannen Sie sich aus und erlauben Sie sich (kurze) Zeiten der Entspannung und des Nichtstuns. Dadurch bekommen Sie wieder einen Blick für das Ganze und Sie werden merken, dass Ihre Spannkraft erhalten bleibt.

Und wenn Sie das Ausspannen wieder lernen müssen, suchen Sie sich Unterstützung von einem Coach oder Trainer. Wer, wenn nicht Sie, ist der wichtigste Mensch in Ihrem Leben? Wie jede Sehne ausleiert, wenn sie ständig angespannt ist, so verlieren Sie Ihre Leistungsfähigkeit, wenn Sie ständig unter Druck stehen. Nehmen Sie sich Zeit für sich und Ihre eigene Form des Ausspannens. Erleben Sie die Dynamik und Schwungkraft zwischen An- und Ausspannen, Sie werden sehen, es lohnt sich!

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